Design Thinking an der Hochschule Wiesbaden

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Anfängliche Skepsis weicht vielfältigen Einsichten – nachträglicher Durchblick oder doch lieber einen Cocktail?

Der Begriff „Design Thinking“ war den 25 Studenten des Studiengangs Medienmanagement der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden noch nie vorher untergekommen.

Entsprechend niedrig waren vermutlich auch ihre Erwartungen an die beiden Referentinnen Inga Wiele und Anja Fehlau, die ihre Nachmittagsvorlesung die nächsten 3 Stunden lang gestalten sollten und erst nach ausdrücklicher Aufforderung wurden die Klappen der Laptops geschlossen.

Lösungsorientierung vs. Problemorientierung

Nach einem kurzen Line-Up-Spiel erhielten die Studenten die folgende Aufforderung:

„Entwerfen Sie die „ideale“ Geldbörse!“ Zeitrahmen: 5 Minuten.

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Trotz vieler unbeantworteter Fragen zur Aufgabenstellung, begannen alle zügig zu zeichnen. Der vorher so unruhige Raum war still geworden.

Nach 5 Minuten hatten alle ein Ergebnis. Die meisten zeigten das Bild einer relativ konventionellen Geldbörse. Wer mochte, durfte sich dazu äussern. Eher zögerlich kamen die Kommentare:

  • „Ich wusste gar nicht, was ideal in dem Fall bedeuten soll.“
  • „Sollten wir das für eine Frau oder einen Mann machen?“
  • „Ich finde, ich habe eine super Lösung gefunden!“ (ein Tresor auf Rädern) – Auf Nachfrage meinte eine Studentin, sie würde diesen auch haben wollen. Immerhin ein kleiner Erfolg
  • „Die Aufgabenstellung war unklar, aber wir konnten ja aufgrund des Zeitdrucks keine weiteren Fragen stellen.“
  • „Ich habe mich darauf konzentriert, was für mich selbst ideal wäre.“

Die Studenten hatten in 5 Minuten eine Situation erlebt, wie sie häufig in der wirtschaftlichen Praxis vorkommt: Eine Person (oder ein Team) bekommt eine Aufgabe, die sie innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne lösen soll. Die Spezifikationen sind spärlich. Daher wird der naheliegende Weg gewählt – die Lösung der Aufgabe aus dem eigenen Wissens- und Erfahrungsbereich.

Sehr viele Produkte werden mit Hilfe dieses lösungsorientierten Vorgehens entwickelt. Nach mehr oder weniger langer Reflexion wird zügig mit dem Bau eines neuen oder leicht veränderten Produktes begonnen. Aufgrund fehlender Budgets oder zeitlichem Druck wird auf eine ausführliche Problemanalyse verzichtet. Die Konzentration bezieht sich auf das Endprodukt.

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Design Thinking dreht diesen Ansatz. Es wird mehr Zeit auf die Problemanalyse verwandt, mit schnellen Prototypen eine Diskussionsbasis geschaffen, um dann letztendlich bei der Implementierung der Lösung weniger Zeitverlust durch Unklarheiten zu haben und eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit zu sichern.

Passend dazu kann man Albert Einstein dazu zitieren:

„Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, die Welt zu retten, würde ich 55 Minuten auf die Beschreibung des Problems verwenden und 5 Minuten auf die Lösung.“

Obwohl die Stunde natürlich nur als Referenzzeitraum gemeint ist, hatten auch die Studenten genau eine Stunde Zeit, um ihre neue Aufgabenstellung „Entwerfe die ideale Geldbörse für Deinen Partner“ zu bearbeiten.

Wieviel problemorientiertes Design Thinking kann in einer Stunde vermittelt werden? Erstaunlich viel – wie sich auch in diesem Fall einmal wieder zeigte.

The best way to understand Design Thinking is to experience it

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Unter diesem Motto durchliefen die Studenten in der folgenden Stunde in komprimierter Form (angelehnt an das Wallet Project der Stanford d.school) einen kompletten Design Thinking-Zyklus. Die Arbeit erfolgte in Zweierteams.

  1. Zuhören und Beobachten: Die Partner erklärten sich gegenseitig ihre aktuell genutzten Geldbörsen.
  2. Tiefer graben: Die Partner sollten sich Geschichten rund um die Geldbörse erzählen und auch versuchen festzustellen, welche persönlichen Bedürfnisse (z.B. Spaß, Sicherheit, Kontrolle, …) sich in der Art der Geldbörse widerspiegeln. So sollte Empathie zwischen den Partnern aufgebaut werden.
  3. Erkenntnisse festhalten: Wünsche und Bedürfnisse der Person wurden notiert und Einsichten beschrieben.
  4. Standpunkt formulieren – dabei wurde die von der Person als wichtigste beschriebene Bedürfnis der Person benannt und die eigene Wahrnehmung hinzugenommen (die der Person vielleicht selbst gar nicht bewusst ist).
  5. Vielfältige Lösungen andenken: In diesem Schritt waren die Studenten gehalten, mindestens 5 Lösungsideen grob zu skizzieren.
  6. Lösungsideen vorstellen und Feedback erhalten: Die 5 Ideen wurden dem Partner vorgestellt und dieser gab dazu Feedback.
  7. Überdenken: Aufgrund des Feedbacks wurden neue Erkenntnisse notiert und eine Lösungsidee weiter konkretisiert.
  8. Prototypen bauen: Mit vielen inspirierenden Materialen (buntes Papier, Karton, Folie, Verpackungsmaterial, Zeitungen, bunte Knete, Büroklammern und und und) konnten jetzt die Entwürfe fassbar gemacht werden.
  9. Lösung zeigen und Feedback erhalten: Die Partner durften die Prototypen jetzt in die Hand nehmen und ausprobieren.

Der Energielevel während der Aufgaben war spürbar. Am Schluss wollte gar keiner aufhören, seinen Prototypen weiter zu verbessern.

Build to Think – Think to Build!
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Jetzt wurde es richtig spannend – im Vorbeigehen hatten wir schon viele interessante Details entdeckt und waren neugierig zu hören, welche Problemlösungen wir erfahren würden.

Die neuen Lösungen reichten von filigranen Drahtkonstruktionen mit Anhängern, über aufwendig gestylte Blumendekors und mappenartige iPad-Börsen bis hin zum leckeren bunten Cocktail mit Schirmchen-Strohhalm.

COCKTAIL? Ja – das war in der Tat interessant und wie ich finde auch sehr cool. Die Studentin hatte die Aufgabe so verstanden, dass sie ein wirkliches Bedürfnis des Partners mit ihrer Lösung adressieren sollte. Ihre Partnerin war vollkommen zufrieden mit ihrer Geldbörse und hätte an diesem sonnigen Tag lieber später noch einen Cocktail genossen. Daraufhin hatte sich die junge Dame entschieden, lieber einen Prototypen für ein leckeres „After Design Thinking Getränk“ zu entwerfen. Interessanterweise empfand sie selbst das Ergebnis als Fehlleistung, da sie die einzige war, die das Themengebiet Geldbörse verlassen hatte. Aber genau hier zeigt sich die Stärke von Design Thinking – nämlich auch die ursprüngliche Aufgabenstellung zu verlassen, wenn man dafür beim Kunden kein Bedürfnis findet und stattdessen ein wirkliches Bedürfnis des Kunden adressieren. Es ist sicher streitbar, ob ein kompletter Themenwechsel in jeder Situation angebracht und möglich ist. In diesem Fall hat die Lösung aber sehr zum Verständnis des Design Thinking Ansatzes beigetragen.


Stärker an der Ausgangsfrage orientierte sich die vorgestellte iPad-Börse. Der Partner besass bereits eine iPhone-Geldbörse, die jedoch hier dem erweiterten Bedarf angepasst wurde. An diesem Beispiel zeigte sich auch, wie wichtig frühes Prototyping und Feedback einholen ist. Der Prototyp verfügte nämlich nicht über eine Öffnung für die Kamera. Beim Prototypen konnte dieses leicht nachträglich in den Kartonprototypen eingebaut werden. So wurde Zeit und gespart werden, die sonst später ggf. in teure Nacharbeiten und Materialverschleiss gemündet wäre.

Insgesamt waren die Studenten sehr überrascht, wie sehr sich die neuen Geldbörsen von ihrem ersten Lösungsansatz für die ideale Geldbörse unterschieden. Den Begriff Design Thinking werden sie wohl so schnell nicht wieder vergessen.