Die Sehnsucht nach Leitplanken

In letzter Zeit moderieren wir auffallend viele Strategiemeetings. Offensichtlich befinden wir uns in einer Zeit der Neuausrichtung. Das Ende des „weiter so!“.

Während Strategien in der Vergangenheit häufig von der obersten Führungsriege definiert und dann sukzessive nach unten heruntergebrochen wurden, umfassen unsere augenblicklichen Strategieworkshops größere Runden mit Mitarbeitenden aus den unterschiedlichsten Hierarchiestufen.

Wer uns kennt, weiß, dass unsere Workshops immer mit einer Runde „Question the Question“ beginnen. Bei dieser Methode wird die Aufgabenstellung des Workshops in den Fokus gestellt und die Mitarbeitenden werden gebeten, Ihre Fragen, Annahmen oder auch (wenn es unbedingt sein muss) erste Ideen zu notieren.

Diese Fragerunde machen wir, ohne dass der Auftraggeber die Aufgabe in die Tiefe erläutert hat, um zu ermöglichen, dass die Teilnehmer auch nach Aspekten fragen, die der Auftraggeber vielleicht noch gar nicht bedacht hat, die aber von Bedeutung sein könnten. 

Diese Vorgehensweise verunsichert in der Regel alle Beteiligten (uns auch). 
In der Regel fällt sofort (noch bevor die Teilnehmenden mit Schreiben begonnen haben) die Frage nach den Leitplanken. 
„Wie sollen wir Fragen formulieren, wenn wir gar nicht wissen, wo oben und unten oder rechts und links die Grenzen liegen?“

Wieso geben wir diese Leitplanken im Workshop nicht vor?

Eine typische Situation. Einer der geschäftsführenden Gesellschafter ärgert sich, dass es seinen Mitarbeitenden im Workshop so schwer fällt, ohne Leitplanken loszudenken.


Ich: „Was wünschen Sie sich im Kern von Ihren Mitarbeitern?“

Er: „Dass sie ihre Aufgabe gut machen.“

Ich: „Was passiert, wenn sie sie nicht gut machen?“

Er: „Dann zeige ich ihnen, wie man es gut macht.“

Ich: „Und wenn es dann immer noch nicht funktioniert?“

Er: „Dann mache ich es selbst.“

Ich: „Merken Sie selbst, oder?“

Er: „Ja – und ich merke auch, dass das nicht skaliert! Ich will nicht so weitermachen. Ich brauche Leute, die sowohl die Gegenwart meistern, als auch in die Zukunft schauen und Risiken auf sich nehmen, falsch zu liegen. Ich brauche Mitarbeiter, die mich beraten und gerne auch mal überstimmen.“

Viele Führungskräfte wollen die Leitplanken nicht mehr selbst bestimmen, ohne sich vorher mit ihren geschätzten Mitarbeitenden beraten zu haben. Sie wollen erst deren komplettes Erfahrungswissen in ihre Überlegungen einbeziehen, bevor sie sich von einer Variante überzeugen lassen.

Was sie dabei unterschätzen ist, wie sehr die meisten Mitarbeiter im operativen Geschäft verankert sind. Dort liegen normalerweise 100% ihrer Aufgaben. Und operatives Geschäft funktioniert fundamental anders als strategisches. Operatives Geschäft braucht enge Leitplanken, sonst läuft es aus dem Ruder.

Operatives Geschäft bedeutet Erhaltung, Strategie erfordert den Willen zur Gestaltung. 

Unternehmer besitzen diesen in der Regel, weil Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Und in der Vergangenheit skalierte das so auch. Diese Zeiten sind vorbei. 

Gestaltung bedeutet die Fähigkeit, Ungewissheit zu ertragen. Keine Leitplanken zu brauchen, sondern sie selbst zu setzen und gegebenenfalls auch wieder zu versetzen.

Diese Fähigkeit trainieren wir in der Laborsituation im Workshop. In der Anwesenheit der Gesellschafter, die auch weiterhin die letzte Verantwortung tragen. Die Mitarbeitenden werden zu Beratenden und zu Entscheidungsunterstützern. Diese Situation macht einigen Angst, weil sie nicht gewohnt sind, ihren Führungskräften die Stirn zu bieten und viele Führungskräfte auch noch nicht stark genug sind, Entscheidungen zu vertreten, die sie nicht vollständig selbst getroffen haben. Aber genau das bedeutet moderne Führung.

Eine Entlastung für die Führungsspitze. Und eine Bereicherung für die Mitarbeitenden.