Lost

Neben all den Merkwürdigkeiten in diesem Jahr gab es auch erfreuliche Momente. Zum ersten mal wurde ein Jugendwort des Jahres gekürt, dass sich im aktiven Sprachgebrauch unserer Jungs befindet: lost. Eine gute Wahl.

Der Begriff ermöglicht es den Jugendlichen, sich schnell über akzeptables und nicht akzeptables Verhalten zu verständigen, ohne unnötig verletzend oder abwertend zu sein. Lost ist kein erstrebenswerter Zustand. Früher hätte man vielleicht gesagt, der oder die hat den Schuss nicht gehört. Aber lost ist präziser.

Jemand der lost ist, hat die Orientierung verloren

Menschen, die meinen, wir würden von Echsenmenschen regiert, die Bill Gates vorwerfen, uns ausrotten zu wollen, die die Existenz von Corona leugnen, diese Menschen sind lost. Ihnen wird medial viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist einerseits verständlich, weil es faszinierend ist, auf welche aberwitzigen Ideen man kommen kann, um sich unsere Welt zu erklären.

Aber wer schon mal mit solchen Menschen diskutiert hat, wird feststellen, dass die meisten wirklich lost sind – rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich. Keiner hat eine gute Antwort, wie man diese Menschen für eine offene Gesellschaft zurück gewinnen kann.

Die wichtigere Frage

Was hingegen kaum diskutiert wird, ist viel wichtiger:

Wie kann man verhindern, dass Menschen überhaupt erst lost werden?

Dabei ist dies viel einfacher, als Menschen, die lost sind, zurück zu holen.

Was viele Menschen verunsichert ist der empfundene Verlust von Gewissheit. Veränderungen in Arbeitswelt und Gesellschaft – vielfach bedingt durch die Digitalisierung – die aber nicht erklärt und verstanden werden. Und auch die Politik wirkt hilflos. Weil diese Veränderungen nicht verstanden und erklärt werden, wird nach alternativen Erklärungen gesucht.

Blaupause Corona-Politik

Dabei zeigt gerade die derzeitige Krise, dass es auch anders gehen kann. Warum wir in Deutschland bisher besser mit dem Virus zurecht kommen als andere Länder, liegt an der Art, wie hier kommuniziert und gehandelt wurde (habe ich auch hier im Video erklärt):

  • Es wurde offen mit der Ungewissheit und Verunsicherung umgegangen, die durch das neue Virus entstanden ist
  • Um der Ungewissheit entgegen zu wirken, ist man schrittweise vorgegangen, hat transparent kommuniziert und war bereit, bei neuen Erkenntnissen die Richtung zu ändern
  • Experten haben immer wieder den aktuellen Stand versucht zu erklären und dabei vor allem auf die Verbreitung über digitale Medien gesetzt

Dieses Vorgehen, zusammen mit der sichtbaren Wirksamkeit der Maßnahmen, hat zu einer hohen Akzeptanz der Corona-Politik geführt. Natürlich ist nicht alles optimal gelaufen, und es gibt genügend Grund, gerade die wirtschaftlichen Fördermassnahmen zu hinterfragen.

Aber es ist auch sehr deutlich geworden: Bei den Menschen, die auf die Corona-Demos gehen und sich mit Rechtsradikalen und Aluhüten gemein machen, ist vorher etwas schief gelaufen. Dies ist keine Folge von Corona. Die waren schon lost.

Gegenbild Digitalisierung

Leider wurde bei den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre nicht entsprechend vorgegangen. Die Feststellung der Kanzlerin, das Internet sei Neuland, wurde von der digitalen Avantgarde mit Häme bedacht. Mit fatalen Folgen.

Die Politik hat sich der Digitalisierung lange verschlossen, während sich die digitalen Pioniere über ihre digitale Überlegenheit definiert haben. Es gibt keinen Prof. Drosten für die Digitalisierung, der breiteren Schichten diese wenig greifbare Welt erklärt.

Und die Feststellung bleibt richtig. Das Internet ist noch immer Neuland. Es bringt gesellschaftliche Veränderungen, die offen diskutiert werden müssen.

Es geht auch anders

Dass dies funktioniert, sehen wir bei unserer Arbeit. In unserem Kurs Digitalisierung verstehen und gestalten schaffen wir es, viele der Veränderungen verständlich zu machen. Es reicht häufig schon alleine, mal die Begrifflichkeiten zu klären, die in der öffentlichen Diskussion munter durcheinander geworfen werden. Aber auch ein realistisches Bild von KI zu vermitteln – ein Thema, das emotional sehr aufgeladen ist, und zu viel Verunsicherung führt.

Die Ungewissheit wird uns auch weiter begleiten. Aber es ist möglich, sich systematisch einen besseren Umgang mit ungewissen Situationen zu erarbeiten. Methoden wie Design Thinking kommen zwar aus der klassischen Produktentwicklung, basieren aber auf der Erkenntnis, dass ein offener und transparenter Umgang mit Ungewissheit, der Einbeziehung verschiedener Sichtweisen und das schrittweise Vorgehen wichtige Elemente sind. Vor allem bietet Design Thinking ein Gerüst, an dem man sich gemeinsam im Team entlang hangeln kann.

Ist unsere Jugend lost?

Viele Eltern treibt die Sorge vor den Gefahren des Internets um. Ja, auch bei uns sind alle Themen wie Pornos, Mobbing auf WhatsApp oder zu viel daddeln vorbei gekommen. Alles nicht lustig. Da hilft nur Offenheit, Vertrauen und reden, reden, reden.

Und dann wird man auch mal positiv überrascht. Unsere Kinder haben ein sehr gutes Gespür dafür, wieviel Müll im Internet so verbreitet wird. Es gehört zu ihrer Lebensrealität. Und dieses Urteilsvermögen ist die Voraussetzung für einen selbstbestimmten Umgang mit der Digitalisierung.

Im August haben die „Querdenker“ (ein Euphemismus für lost) in Berlin demonstriert. Mit Hilfe eines Bildvergleichs mit der Love Parade wollten sie anschließend glaubhaft machen, dass 1 Million Menschen gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert hätten. Inga war im ersten Augenblick verunsichert und hat sich gefragt, dass das ja tatsächlich so aussieht. Dann hat sie diese Bilder unserem ältesten Sohn gezeigt. Seine Antwort war legendär (auch so ein Jugendwort):

MAMA! Das ist das Internet. Du musst nicht alles glauben, was Du da liest. Man sieht doch auf den ersten Blick, dass das unterschiedliche Bildausschnitte sind. Ausserdem hat Berlin 3 Millionen Einwohner. Meinst Du nicht, dass es offensichtlich wäre, wenn da auf einmal 1 Million mehr Leute hinzukommen?

Dass junge Menschen in der digitalen Welt ein besseres Urteilsvermögen haben, wurde auch durch eine Studie bestätigt. Menschen über 65 Jahre teilen 7 mal häufiger Fake News in sozialen Medien als 18-29 Jährige.

Ach ja, in der Schule dürfen unsere Kinder bis heute keine Handys benutzen.