23 Jan Essenz der Digitalisierung: Eine fundamentale Machtverschiebung
Ameisen werden häufig dafür bewundert, dass sie das 100-fache ihres eigenen Körpergewichts tragen können. Was weniger im allgemeinen Bewußtsein ist: Ameisen haben keine zentrale Führung, keine Hierarchie. Trotzdem schaffen es die Ameisen, ihren Staat zu organisieren, mit eigenen Trupps für die Nahrungssuche oder einer eigenen Müllhalde. Jede Ameise hat eine bestimmte Funktion, die sich je nach Bedarf auch ändern kann. Dabei kommunizieren die Ameisen über Duftstoffe (z.B. wird mitgeteilt, wo Nahrung zu finden ist). Jede Ameise nimmt nur die eigene, direkte Umgebung wahr und kommuniziert nicht mit einer Zentrale.
Unsere Welt ist hingegen hierarchisch organisiert: Staat, Politik, Parteien, Unternehmen, Verbände, Verwaltung. Wer weiter oben in der Hierarchie steht, hat mehr zu sagen, mehr Einfluss, mehr Macht. Oben wird bestimmt, was die Unteren zu tun haben. Klare Verantwortlichkeiten beschreiben, wer wofür zuständig ist. Auch auf der fachlichen Seite setzt sich dies fort: wer mehr Erfahrung hat, hat mehr zu sagen als ein junger Hüpfer. Diese Form der Organisation gibt Verlässlichkeit, Vertrauen und schafft Sicherheit. Länder, in denen die staatlichen Strukturen versagen, versinken im Chaos. An eine Selbstorganisation wie bei Ameisen ist nicht zu denken.
Viele Menschen bereiten Veränderungen und Unsicherheit bzgl. der Zukunft Unwohlsein. Die hierarchischen Strukturen geben ihnen Halt und Organisationen versuchen die Unsicherheit zu mildern, indem sie die Zukunft planen. Wer einmal in einem Unternehmen mit Excel in Berührung gekommen ist, weiß, was ich meine. Startups müssen mehrjährige Business Pläne vorlegen, um an Kapital zu kommen. Leider hält sich die Zukunft immer weniger an diese Pläne.
Organisationen merken Notwendigkeit zur Änderung
Interessanterweise bekommen wir seit dem letzten Jahr vermehrt Anfragen unserer Kunden, die grundsätzlich über ihre Unternehmens- und Arbeitskultur und ihre Organisation nachdenken wollen. Sie spüren, dass die bisherige Organisations- und Arbeitsform nicht mehr ausreicht. Sie müssen agiler und flexibler werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. In Gesprächen mit Verantwortlichen in Unternehmen, Verwaltung und Politik, aber auch in der öffentlichen Diskussion beobachten wir gleichzeitig eine grundsätzliche Verunsicherung, die mit der Digitalisierung verbunden wird. Da ist etwas, das die Menschen nicht greifen können. Viele Aspekte kann man verstehen und erklären. Die Berührungsängste mit neuen Technologien, die Sorge, dass man nicht das richtige Personal hat oder bekommt, der Aufwand, der mit der Einführung eines neuen Systems verbunden ist. Aber trotzdem bleibt etwas, das anders ist.
Ich habe versucht, dieser Frage nachzugehen. Was ist es, was die Menschen verunsichert? Warum können Sie es nicht greifen? Was ist bei der Digitalisierung so fundamental anders als bei anderen technologischen Veränderungen? Gibt es etwas, das auch nach einer Anpassungsphase an neue Technologien und Geräte anders sein wird?
Nach längerer Überlegung lautet meine These:
Die Digitalisierung führt zu einer dauerhaften Machtverschiebung hin zum digital-vernetzten Individuum.
Auf den ersten Blick mag dies nicht einleuchten, da sich die öffentliche Diskussion um die Machtverschiebung hin zu Plattformen und sozialen Netzwerke wie Amazon, Facebook, Youtube oder Twitter dreht. In der Tat sind diese Plattformen Teil und Voraussetzung dieser fundamentalen Änderung: Praktisch jeder Mensch kann sich nun mit jedem anderen auf der Welt vernetzen – ob man sich kennt oder nicht.
Menschen wollen sich vernetzen
Aber erst der Wunsch der Menschen, sich zu vernetzen, sich auszutauschen und Inhalte zu teilen, bringt den Plattformen diese zentrale Rolle ein. Es wird auch weiterhin Diskussionen geben, wie der Austausch geregelt werden soll, und wo es ggf. entsprechender rechtlicher Anpassungen bedarf. Dies ändert letztlich aber nichts an der Machtverschiebung hin zum Einzelnen. Die Auswirkungen sind mittlerweile jedem bekannt:
- mit Posts in sozialen Netzwerken – positiv wie negativ – kann jeder beliebig viele Menschen erreichen, die er selbst nicht kennt
- Blogger und Youtuber erreichen ihre Zielgruppen direkt, ohne wie in klassischen Medien durch Redaktionen oder Gremien ausgewählt zu werden
- Produktbewertungen wie bei Amazon u.ä. Plattformen schaffen Transparenz und geben den Verbrauchern eine bessere Entscheidungsgrundlage
- kleine Startups können die Geschäftsmodelle ganzer Konzerne in Frage stellen
- einzelne Hacker oder kleine Gruppen sind in der Lage, zentrale Systeme anzugreifen
Digitalisierung: Die Ameisen sind da
Ein weiterer Beleg für eine fundamentale Änderung ist die steigende Fähigkeit zur Selbstorganisation von Menschen über die sozialen Netzwerke – die Ameisen lassen grüßen. In der Wissenschaft beschäftigt sich die Komplexitätstheorie mit Systemen, die in der Lage sind, sich selbst zu organisieren. Ein komplexes System (im Gegensatz zum komplizierten System) ist fundamental anders und mehr, als die reine Summe der Einzelteile. Voraussetzung für die Ausbildung komplexer Verhaltensweisen ist, dass die Akteure über unterschiedliche Mechanismen eng miteinander kommunizieren – genau das, was die sozialen Netzwerke bieten.
Ein Beispiel: Die aktuellen populistischen Strömungen sind auch eine Folge der gestiegenen Transparenz bzgl. der Unzufriedenheit ganzer Bevölkerungsschichten mit dem Zustand der Gesellschaft und den politischen Akteuren. Blieb diese Unzufriedenheit früher an den Stammtischen mit begrenzter Reichweite, erleben wir heute eine weltweite Vernetzung der Stammtische. Es wird offenbar, dass nicht nur der eigene, kleine Bekanntenkreis bestimmte Positionen vertritt. Der Mut, sich öffentlich – in den sozialen Netzwerken – zu bekennen, wächst.
Weitere Beispiele für Selbstorganisation über soziale Netzwerke sind:
- Die Entwicklung von Open Source Software durch global verteilte Teams, die sich i.d.R. nicht einmal persönlich kennen
- Shitstorms, Flashmobs und Cyber-Mobbing
- Hilfsaktionen während der Flüchtlingskrise, die sich spontan und ohne staatliches Zutun gebildet haben
- Online-Spiele, bei denen sich Teams spontan zusammenfinden und gemeinsam Aufgaben lösen
- Crowdfunding von Produkten und Projekten
Selbstorganisation führt zu Verunsicherung
Diese Fähigkeit zur Selbstorganisation – vor allem in ihrer negativen Ausprägung – ist vielleicht die Änderung, die vielen Menschen am meisten Unbehagen bereitet, denn sie ist nicht vorhersagbar und kontrollierbar.
Die beschriebene Machtverschiebung ist dauerhaft, sie wird auch nach weiteren Anpassung des rechtlichen Rahmens für den Betrieb betroffener Plattformen und sozialer Netzwerke bleiben. Die Konsequenzen für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind vielfältig und können daher hier nur exemplarisch angesprochen werden. Es ist aber essentiell, dass der grundsätzliche Charakter dieser Änderung verstanden wird und als Basis für weitere Diskussionen dient.
Die Konsequenzen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sind weitreichend. Um nicht den Rahmen zu sprengen, möchte ich mich im ersten Schritt aber auf einen Aspekt beschränken, der die Arbeitsform in Organisationen betrifft.
Was bedeutet dies für Unternehmen und andere Organisationen?
Der Wunsch vieler Unternehmen, flexibler und agiler zu werden, ist eine direkte Folge aus dieser grundsätzlichen Machtverschiebung. Der demographische Wandel mit dem Fachkräftemangel verstärkt diese Veränderung zudem.
Unternehmen und andere Organisationen sind auf Effizienz getrimmt. Ein Produkt oder eine Dienstleistung muss mit möglichst geringen Kosten und Ressourcen hergestellt oder erbracht werden. Dabei wird unter größtmöglicher Arbeitsteilung und Spezialisierung gearbeitet. Die Erfahrung der Mitarbeiter hilft, Prozesse und Abläufe zu optimieren. Innovationen, die nah an der bekannten Denk- und Arbeitsweise liegen (z.B. neue Maschinentypen) werden regelmäßig zur weiteren Effizienzsteigerung in die Prozesse integriert.
Die Fixierung auf die Effizienzoptimierung verhindert aber, dass die beschriebenen fundamentalen Änderungen wahrgenommen und begriffen werden. In dieser Situation ist es notwendig, den Arbeitsmodus zu ändern. Es muss gemeinsam im Team verstanden werden, welche Veränderungen die Organisation betreffen. Es gibt nicht den einen Fixpunkt auf den hin optimiert wird. Ein explorativer Arbeitsmodus wird benötigt. Kunden, Mitarbeiter, und potentielle Bewerber müssen ernst genommen und neu verstanden werden. Ihre Bedürfnisse müssen identifiziert werden, um angemessen darauf eingehen zu können.
Warum ist Design Thinking ein so wichtiges Instrument?
Arbeitsweisen wie Design Thinking bilden mit ihren offenen Methoden und flexiblen Prozessmodellen ein zentrales Instrument, dieses Verständnis zu gewinnen und die notwendige Anpassung zu bewältigen. Design Thinking legt den Fokus auf ein einheitliches Problemverständnis im Team. Basis hierfür ist die Entwicklung von Empathie für Kunden und Mitarbeiter. In vielen Organisationen wird zu schnell an möglichen Lösungen gearbeitet, bevor das Problem erfasst und verstanden wurde. Design Thinking gibt den Teams eine Struktur an die Hand, um diese Lücke systematisch zu füllen. Anhand dieses Gerüsts ist es auch ungeübten Teams möglich, die notwendige Empathie für die jeweilige Zielgruppe zu entwickeln und neue Lösungsansätze zu gewinnen.
Das Design Thinking Vorgehensmodell, das sich über die verschiedenen Projektphasen der Produktentwicklung erstreckt, bietet mit seinen unterschiedlichen MeilensteinenTeams die Gelegenheit, immer wieder innezuhalten und sicherzustellen, dass der gemeinsam eingeschlagene Weg wirklich zum angestrebten Ziel führt. Angesichts von neuen Erkenntnissen, die sich im Lauf des Projektfortschrittes ergeben haben, kann evaluiert werden, ob der vorher eingeschlagene Weg noch der ist, den das Team gemeinsam gehen sollte. Ausserdem bieten diese Haltestellen auch immer die Chance, zu prüfen, ob noch alle Teammitglieder dasselbe Verständnis haben und somit am selben Strang ziehen können.
Was bedeutet dies für die Organisationsformen?
Die klassischen hierarchischen Strukturen sind nicht in der Lage, flexibel auf die äußere Änderungen zu reagieren. Ohne diesen Punkt hier weiter zu vertiefen, möchte ich kurz andeuten, in welche Richtung es hier gehen muss.
Durch die zunehmende Vernetzung der Menschen außerhalb der Unternehmen werden letztlich die Verantwortlichen nicht umhin kommen, die beschriebene Entwicklung in ihrem Unternehmen zu spiegeln: mehr Freiheit, Vernetzung, Einfluss und Verantwortung für die Mitarbeiter. Im Buch “Team of Teams” umreißt General McChrystal sehr anschaulich, dass die klassische, hierarchische Organisation den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht wird. Stattdessen müssen Unternehmen selbst die Fähigkeit zur Selbstorganisation entwickeln, indem sie sich in kleinen, weitgehend autonom agierenden, gut vernetzten und kommunizierenden Teams organisieren. Eine klare Vorstellung des anzusteuernden Ergebnisses und ein teamübergreifender enger Austausch dienen als Aktionsbasis innerhalb derer Teams die Freiheit haben, flexibel auf sich kurzfristig stellende Ereignisse zu reagieren.
Dafür müssen die Teams lernen, immer wieder den effizienzorientierten Modus zu verlassen, und im offenen Modus aktuelle Veränderungen und Entwicklungen zu überdenken. Nur so ist es möglich, flexibel auf die Machtverschiebung und deren Auswirkungen reagieren zu können.